Ein paar Gedanken spuken mir schon länger im Kopf. Und damit eine gewagte Theorie. Sollten Dinge öfter mal so gestaltet werden, dass man einige Menschen in der Journey als Customer/User verliert? Ganz nach dem Motto: Wenn du jetzt schon aussteigst, war es von Anfang an uninteressant für dich. Und warum Kreative im Umkehrschluss nicht immer nach Schulbuch arbeiten sollten.
Wir Kreative lernen in unserer Ausbildung, ob man jetzt studiert, auf die FH geht, auf ein Kolleg, oder ganz verpöhnt sogar autodidakt, immer und überall Regeln. Ist ja auch klar, eine gewisse Grundorientierung und ein Verständnis, wie die Elemente sich reiben brauchen wir ja.
Mein Desigstudium schloss ich im Jahr 2001 ab. Damals recherchierten und schlugen wir noch echt viel in Büchern nach und kauften eben diese, um Standardpraxisen zu lernen und als "ewig" zu verinnerlichen.
Da gab's dann Dinge wie "Linien dürfen nur diagonal von links unten nach rechts oben wachsen, weil das ist Positivität". Oder "Das Logo muss immer oben links oder rechts sein, sonst findet der Betrachter nicht raus, wer der Absender ist".
Gelten diese Regeln jetzt für immer? Oder wird das bald mal umgestellt? Und von wem? Alles verändert sich doch täglich. Wie wir konsumieren, wie wir alles verteufeln oder glorifizieren, wie wir uns anders orientieren, aber gewissen Dinge bleiben dann ewig gleich?
Die Frage, die ich am Ende stellen möchte: Wenn Kreative sich den ewig gesetzten Regeln ergeben, werden wir dann nicht selber stumpf und prägen weiter einen Weg, der Menschen kapitalistisch verblöden lässt?
GUIDELINES
FÜR UI/UX
GANZ NACH
SCHULBUCH
Besonders deutlich wird das oftmals, wenn man im UI/UX Bereich arbeitet. Denn hier haben sich die konkretesten Regeln hervorgetan. Nach vielen Studien im Behavorismus des Medienkonsums sind so gewisse Erkenntnisse gewachsen, wie User sich im Interface orientieren. Man weiß welche Icons ohne Erklärung sofort erkannt und benutzt werden. Wo in der Standard-UI Dinge platziert werden müssen, damit sie als diesdas erkannt werden und ggf. ein Kaufabschluss schneller zustande kommt.
Aber: Setzt man, wenn man alles nach Schema-F standarisiert, nicht auch ein Statement seiner Brand gegenüber? Mein Ansatz war es immer eine Welt aus einer Marke zu machen und nicht nur Utilities zu schaffen. Beispiel: Im echten Laden baut man auf immersive Erlebnisse und hat kein Standard Layout, wo Produkte stehen und wo die Kassa ist. Aber im Web ist alles super standarisiert und die Client-/User-Experience der Brand spiegelt sich nicht im geringsten.
Muss man als Kreative*r nicht auch einem gewissen intrinsisch gewachsenen Wissen folgen und gezielt manche Dinge anders umsetzen, um gezielte Wachrüttler zu generieren? Meine Theorie: Lasst User und Klienten ruhig ab und zu über Dinge stolpern und nicht alles in Millisekunden verstehen. Warum? Um Commitment zu generieren.
CORPORATE
DESIGN ALS
GEEICHTER
STANDARD
Was ist eigentlich mit Corporate Design? Besteht das immer aus Logo, Schriftbild, festgesetzten Farben, Fotostyle und dekorativen Elementen? Sinnbildlich schlage ich das Schulbuch auf und lese den Satz "So muss ein Corporate Design sein, sonst ist es kein Corporate Design. Das Logo ist das Wichtigste, deswegen muss es den und den Standard erfüllen. Punkt." — Regel steht. Für immer.
In meinem beruflichen Umfeld beobachte ich aber gerade ganz andere Dinge. Firmen treten an uns heran und sagen uns, dass sie zu unpersönlich und maschinell wirken. Ihr Corporate Design wäre fast "zu sauber" und lässt sie dadurch als großindustrielle Player dastehen.
Wandeln sich mittlerweile nicht auch Methode und Ansätze, weil Gesellschaft und Marktwirtschaft sich weiter transformiert?
BRAND
IDENTITY
FLEXIBEL
MIT
COMMUNITY
BUILDING
Wenn Corporate Design mit anderen Methoden und neuen systematischen Ansätzen, gemeinschaftlich als Tool geformt wird, bestehen dann nicht viel mehr Chancen? Statt einen starren Standard zu schaffen, warum nicht ein sich transformierendes und sich weiterentwickelndes System?
Eines, das sich in Bundesländern, Regionen und im Ausland weiter transformieren und anpassen kann, das Dialoge für lokale Kollaborationen und die ansässige Gesellschaft öffnet. Eines, das Menschen einbezieht statt einer sturen Business-Rüstung zu gleichen. Aber steht in den Schulbüchern wie das geht? Oder ist das nicht die Freude und der Ansatz der kreativen diese Systeme ganz "out of the box" zu entwickeln?
Statt die Designregeln und Best Practice für eternally ewig zu antizipieren, folge ich als Kreativer lieber den Regeln der Brand und der Welt, die ich entwickelt habe.
Was passiert im schlimmsten Fall? Statt drei bekannten Icons auf der Website sind gewisse Funktionen oder Dinge z.B. ausgeschrieben und die User müssen innehalten, um sich systematisch zu orientieren. User, die standardmässig auf ähnlichen Seiten unterwegs sind vielleicht länger als User, die oft auf anderen Seiten browsen.
Wird User A nach drei Sekunden frustriert abbrechen und die Seite verlassen? (Vielleicht sogar enorm verwirrt zu weinen anfangen?) Oder wird User A, weil er*sie deine Brand/Welt besser kennenlernen und eintauchen möchte das Commitment aufbringen, um sich zu orientieren?
Schaffen wir hier Frust, weil wir kein standarisiertes Erlebnis haben? Oder werden wir ein paar User verlieren, aber im "Long Run" authentischer mit echten Fans dastehen, weil wir genug Immersion und XP geliefert haben?
KAPITALISMUS
DIKTIERT
KREATIVITÄT
Vor nicht allzulanger Zeit wurde ich von einem Experten mal mit einem Regel-PDF von 2015 konfrontiert, in dem ich "endlich mal mal lernen sollte, wie eine Website aufgebaut sein muss, damit Menschen sie verstehen". Echt jetzt?
Ein gewisse Logik im User-Verhalten ist sicher gegeben (wir lesen weiter von links nach rechts). Jedoch entwickeln sich auch User weiter, konsumieren anders, mal bedachter, mal weniger bedacht, mal wollen sie herausgefordert werden, mal wollen sie sich fallen lassen. Am Ende des Tages bin ich davon überzeugt, dass von beiden Seiten ein Commitment eingefordert wird. Von Brands und Kreativen, um ein authentisches Gesamterlebnis zu schaffen. Und von Konsument*innen, die sich zumindest kurz die Zeit nehmen sollten, um zu wissen und zu verstehen wo sie sind und was es gibt.
Wenn alles künftig weiter standarisiert und nach Schema F umgesetzt wird, erhöhen wir natürlich die Accesibility. Alles wird leicht, weil alles gleich ist. Menschen werden schneller konsumieren und Firmen schneller Verkaufsabschlüsse machen. Aber lässt man Menschen dadurch nicht endlos verblöden, weil die Frustrationsschwelle so herabgesetzt wird, dass andere Erlebnisse gar nicht mehr angenommen werden? (Ois z'anstrengend)
Ich bin mir sicher, dass jede Brand ihre eigenen Regeln aufstellen sollte. Prozesse sollten authentisch aufgezogen und agiler werden, also schnell veränderbar und anpassungsfähig. Wenn man das Gefühl hat etwas funktioniert nicht, kann man gezielt testen, um seine Theorien zu verifizieren oder zu falsifizieren. Klappt etwas nicht, wird es schnell umgebaut.
Brands, die echte Erlebnisse liefern und keinem Standardwerk folgen, werden schneller als authentisch wahrgenommen. Die Bereitschaft weiter in diese Welten zu tauchen, mit ihren Werten, Versprechen und Haltungen wird so aktiver hergestellt. Oder eben nicht, denn Menschen die sich nicht damit identifizieren, werden so schneller ausselektiert.